Kurt Münger
präsidiert die Schweizerische Gesellschaft für Familienforschung.
von links: Rosmarie Kühnis, Vereins-Präsidentin, Doris Bloch, Bereichsleiterin Wohnen und Sandra Nater, Gesamtleitung des Vereins. sro
Noch immer sind sie tabu und mit Stigmata belegt: psychische Krankheiten und die damit einhergehenden Schwierigkeiten. Der Verein Säntisblick bietet Orte, an denen offen darüber gesprochen wird und wo die Menschen professionell begleitet werden.
Säntisblick Der Ursprung des Vereins findet sich in den 1970er-Jahren in der Psychiatrischen Klinik Herisau. «Es ging darum, ausserhalb der Klinik Unterstützung im Alltag zu bieten. So entstand die erste Wohngemeinschaft mit zehn Plätzen, in der die Leute in Teilzeit betreut waren», erinnert sich die Präsidentin des Vereins, Rosmarie Kühnis. Damals wurde das Angebot vom Appenzellischen Hilfsverein für psychisch Kranke geleitet, dieser wollte die Aufgabe dann abgeben. «Deshalb gründete man 1993 den Verein Säntisblick», so Kühnis. Mit den Jahren entstanden immer mehr WG-Plätze, nebst Teilzeit- war schliesslich auch Vollzeitbetreuung in den Wohnangeboten möglich. Heute gibt es 37 Wohnplätze für Menschen mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen. «Wir sind gut ausgelastet», sagt die Bereichsleiterin Wohnen, Doris Bloch, die seit rund 20 Jahren dabei ist. Es gibt den Jugendbereich mit 15 Plätzen, in dem Jugendliche ab 15 Jahren aus psychiatrischen Kliniken herkommen, und zehn Plätze für Erwachsene, die psychisch krank sind. «Sie sind ganztags betreut, im Gegensatz zu den Jugendlichen aber nicht auch noch in der Nacht. Schliesslich gibt es auch das durchmischte Wohnangebot für Jugendliche und Erwachsene, das acht Plätze bietet», sagt Bloch. Nebst dem Wohnangebot durch den Verein Säntisblick werden im gesamten Kanton rund 50 Klientinnen und Klienten, die selbstständig wohnen, vom Verein unterstützt. Es bestehen zwei Tagesstrukturen. «Die Tagesstruktur 'Begleitetes Wohnen' wird vorwiegend von Jugendlichen, die noch nicht genügend stabil für eine Ausbildung sind, besucht. Irgendwann ist es vielleicht möglich, eine Ausbildung in Angriff zu nehmen», so Bloch. Die zweite Tagesstruktur der «gwunderwerkstatt» wird von Externen genutzt, die nicht in den Wohnangeboten des Vereins leben. Die Klientinnen und Klienten kommen nicht nur aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden, sondern aus der gesamten Schweiz. Es gibt wenige Fälle, die der Verein ablehnen muss. «Wir nehmen eigentlich alle Personen mit einer psychiatrischen Diagnose auf. Menschen mit einer stark kognitiven Einschränkung müssen wir eher ablehnen, also Personen mit einer geistigen Beeinträchtigung», sagt Bloch. Auch wenn die Wohnangebote meist voll sind, so werde doch regelmässig ein Platz frei. «Ich vergleiche es immer mit der Reha. Einige bleiben ein paar Monate, andere mehrere Jahre», so die Leiterin des Wohnbereichs.
Auch wenn bei Jugendlichen das Ziel ist, dass sie irgendwann eine Ausbildung machen können, sei etwas anderes viel wichtiger: «Wir betreuen viele traumatisierte junge Frauen, die sich selbst verletzen und suizidal sind. Es geht darum, sie so weit zu stabilisieren, dass sie ein einigermassen normales Leben ohne die vielen Krisen führen können», so Bloch. Dort sei die intensive 24-Stunden-Betreuung von höchster Bedeutung. Sandra Nater, Gemeinderätin und Gesamtleiterin des Vereins Säntisblick, sagt, die Wohneinheiten seien nach der intensiven Betreuung der nächste Schritt in die Selbstständigkeit. «Aber eben ein langsamer Schritt, bei dem die Betroffenen 365 Tage im Jahr begleitet werden, damit sie hineinwachsen können.». Die drei Frauen betonen, dass man so traumatisierte Menschen nur aufnehmen könne, da die psychiatrische Klinik wie auch das Krankenhaus sich in Herisau befinden. «Bei heftigen Krisen, wenn sich die Klientinnen und Klienten etwas antun möchten, können wir sie in die Klinik bringen», sagt Bloch. Die Zusammenarbeit sei eng und funktioniere sehr gut. «Es braucht beides, die Klinik und unser Angebot. In Kliniken werden die Aufenthalte immer kürzer, weswegen sie bei uns mehr Betreuung brauchen», sagt Bloch und Kühnis fügt an: «Die Reha-Angebote, die es früher gab, sind heute verschwunden. Diese Aufgabe übernehmen wir.»
Die Angebote vom Säntisblick seien schon immer gut ausgelastet gewesen, heute merke man zusätzlich, dass Beratungsstellen oder Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilungen voll seien. «Es ist schwer, auch nur einen Termin zu erhalten. Das ist ein riesiges Problem», sagt Bloch. Als sie die Ausbildung machte, habe es noch keine Kinder- und Jugendpsychiatrie gegeben. Kühnis vermutet, dass es schon früher Erkrankungen in jungen Jahren gab, man aber die Jugendlichen nicht so auffing wie heute. «Und früher war sicherlich auch der Druck in der Arbeitswelt weniger hoch als heute. Die Entwicklung in der Gesellschaft hat dazu beigetragen, dass unsere Klientinnen und Klienten jünger geworden sind», sagt Kühnis. Heute würden die Themen glücklicherweise auf dem Tisch landen, man spreche über Traumata und Missbrauch. Die Fachleute sind mit immer neuen gesellschaftlichen Themen gefordert. «Wir müssen immer mit offenen Augen auf die Gesellschaft blicken, um den Zeitgeist zu erfassen», sagt Bloch. So waren vor Jahren ADHS-Diagnosen ein grosses Thema in ihrer Arbeit, heute seien dies Fragen zur Genderidentität und Traumata. Der Verein Säntisblick sei erstaunlicherweise gar nicht so bekannt. «Das liegt teilweise schon noch an den Stigmatisierungen. Wir arbeiten daher etwas versteckter als wir gerne würden. Die Arbeit, die die Fachleute leisten, ist wertvoll und nicht zu unterschätzen», sagt Nater. Der Verein würde sich über neue Mitglieder freuen. «Es ist eine ideelle Mitgliedschaft, damit kann man uns unterstützen», sagt Nater.
Stefanie Rohner
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