Als Film und Theater bekämpft wurden
Starke Zensur-Bestrebungen vor 100 und 200 Jahren
Über Jahrhunderte wachte die Obrigkeit der Stadt St.Gallen zusammen mit kirchlichen Kreisen intensiv über die Sitten und die Moral der Bevölkerung. Immer wieder gab es Ermahnungen und Strafen. Doch auch in der Bevölkerung regte sich Widerstand gegen neue Entwicklungen.
Sittengeschichte Vor 200 Jahren wurde darüber gestritten, welche Bühnenstücke im Theater sonntags aufgeführt werden und welche höchstens werktags auf dem Programm stehen dürfen. Vor hundert Jahren zeigte sich heftiger Widerstand gegen die Eröffnung eines neuen Kinos. 1821 brach gemäss der St.Galler Theatergeschichte von Ulrich Diem im neuen Mittwoch-Blatt «Der Bürger- und Bauernfreund» ein grosser Meinungsstreit über das Sonntagsprogramm im Theater aus. Nur dank der Einwirkungen des Landammanns und Theatergründers Karl Müller-Friedberg habe schliesslich der liberale Geist obsiegt. In der erwähnten Postille erschien ein Leitartikel mit dem Titel «Ein Wort über das hiesige Theater», der die Aufführung leichter Kost an Sonntagen beanstandete. Solche entheilige den Sonntag, meinte der Stadtbürger. Auch kritisierte der Verfasser die Zulassung der Kinder zu den Vorstellungen, welche noch lange bestehen blieb. Der St.Galler Kirchenrat beanstandete sogar die Aufführung von Schillers «Jungfrau von Orleans» am Stephanstag, dem 26. Dezember. Der autokratische Landammann habe die Verantwortung für diesen angeblichen Verstoss gegen das Sonntagsgesetz zu tragen, wurde behauptet.
Proteste gegen Kinoeröffnung
Genau hundert Jahre später, 1921, protestierten kirchliche Kreise gegen die Eröffnung eines Kinos im Haus zur Palme an der Oberstrasse 175. Als der Stadtrat dem Gesuch der Kinobetreiber entsprach, nahmen die Evangelische Kirchenvorsteherschaft und die katholische Kirchenverwaltung Straubenzell, aber auch der Kreisschulrat und die Jugendschutzkommission dagegen Stellung. Allgemein galten Kinovorführungen bei den Hütern der Moral als unmoralisch. In diesem Falle fiel auch ins Gewicht, dass der Gesuchsteller, der Wirt Johann Jakob Künzler, mehrfach vorbestraft war. Der Stadtrat verteidigte sich, auch er hätte die Konzession bei freier Entscheidungsbefugnis wahrscheinlich verweigert. Allein er sei in einem früheren, ähnlichen Falle von den Oberbehörden unter Hinweis auf die verfassungsmässig garantierte Gewerbefreiheit nicht geschützt worden.
Filmzensur
Noch lange wurde den Kinos eine sittliche Gefährdung unterschoben. Die Sittenwächterinnen und Sittenwächter sorgten sich wegen der Abbildung von Liebesleben und Nacktheit namentlich um die Jugend. Nach den ersten Vorschriften im Jahre 1912 erliess die Regierung 1928 eine «Verordnung über die Einrichtung und den Betrieb von Lichtspieltheatern», welche die Filmzensur bestätigte. Dies veranlasste den St.Galler Stadtrat auch zum Erlass einer Wegleitung für die Filmkontrolle. Er legte fest, dass Filme mit «entsittlichender» Wirkung zur Vorführung nicht zugelassen seien. Dazu gehörten Nacktszenen, wenn sie in «lüsterner, ausschliesslich auf Auslösung der Sinnlichkeit abzielender Form» geboten würden. Die schwierige Umsetzung solcher Normen löste während 50 Jahren lebhafte Diskussionen aus bis die Filmzensur 1976 aufgehoben wurde. Noch 1955 bestellte der Stadtrat eine Filmkommission, welche die Polizeiverwaltung in Fragen der Zensur beraten sollte. Doch die internationale Aufklärungswelle verunmöglichte eine klare Linie bei der Zensur immer mehr. Die Regierung bezeichnete noch 1968 den Aufklärungsfilm «Das Wunder der Liebe» von Oswalt Kolle als sittengefährdend und verbot die Aufführung. Das Verwaltungsgericht hob den Entscheid im Rekursverfahren aber wieder auf. Es stellte fest, dass der Film durch seine im Spielgeschehen klar zum Ausdruck gelangende saubere Zielsetzung darauf angelegt sei, durch eine glücklichere Gestaltung der intimen Beziehungen im legitimen Rahmen die eheliche Ordnung zu fördern. Dies zeigte deutlich, wie weit die Ansichten über die Darstellung von Nacktheit und Sex auseinander geraten waren. Obwohl vor hundert Jahren Kino-Vorstellungen auch mit Blick auf die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit von verschiedenen Seiten heftig abgelehnt wurden, konnten die Hüter der Moral aber den Siegeszug des Films in keiner Weise aufhalten. Der Publikumsandrang wurde immer grösser, was sich in St.Gallen durch die Gründung von sieben Kinos allein zwischen 1907 und 1924 zeigt.
Von Franz Welte