Lese- und Schreibschwäche im Erwachsenen-Alter – ein Tabuthema
Sie schreiben k statt ck, verwechseln ein D mit einem T, sind ahnungslos bei dass oder das, vertauschen Silben oder tun sich schwer mit Gross- und Kleinschreibung. Jeder sechste Erwachsene in der Schweiz leidet an einer Lese- und Schreibschwäche. Das Phänomen, das als Illettrismus beschrieben wird, ist immer noch ein grosses Tabuthema.
Bildung «Lesen und Schreiben kann man doch einfach – wer es als Erwachsener nicht kann, ist dumm», dies ist oft noch die gängige, aber falsche Meinung in der Gesellschaft. Mit dieser Aussage wurde auch Stefan* oft konfrontiert. Der 47-Jährige leidet seit jeher an einer Schreibschwäche. «Gemerkt habe ich das bereits in der Schule. Meine Diktate kamen fast immer röter zurück als sie zuvor blau waren», beginnt er zu erzählen. Gross- und Kleinschreibung sei für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. «Normalerweise erkennt man eine Logik in der deutschen Schreibweise, für mich ergab vieles einfach gar keinen Sinn.»
«Wenn ich von Hand schreiben musste, stieg mein Adrenalin sofort hoch»
Irgendwie habe er die Schulzeit hinter sich gebracht, in den anderen Fächern hatte er schliesslich nie Probleme. «Danach begann ich eine Lehre zum Bauspengler. Ich schlug mich gut in der Berufsschule. Bei einer derartigen handwerklichen Ausbildung steht das Schreiben nicht im Fokus», erzählt Stefan. Und habe es doch mal Probleme gegeben, habe er sie einfach umschifft. «Diese Abwehrstrategie trifft man häufig bei Leuten mit einer Lese- und Schreibschwäche an. Sie delegieren, tauschen ab oder sagen dann, sie hätten die Brille vergessen oder binden sich gar die Hand ein, nur damit jemand anderes das Schreiben für sie übernimmt», erklärt die Erwachsenenbildnerin Brigitte Locher. Seit 12 Jahren gibt sie Kurse für Erwachsene mit einer Lese- und Schreibschwäche am Berufs- und Weiterbildungszentrum in Wattwil.
Vor drei Jahren stieg auch Stefan bei ihr in den Grundlagenkurs ein. «Ich konnte meine Schreibschwäche nicht mehr ignorieren oder umgehen, als ich eine zweite Ausbildung zum Sozialpädagogen machte. Wenn ich Prüfungen von Hand oder öffentlich etwas an die Flipchart schreiben musste, stieg das Adrenalin in mir sofort hoch», sagt er. Sein späterer Chef motivierte ihn dann, seine Schreibschwäche zu bekämpfen. «Er wollte nicht, dass die Mitarbeiter deswegen ein schlechtes Bild von mir erhalten, denn ich war ja ansonsten richtig gut in dem, was ich tat.» Mittlerweile ist er Leiter einer Abteilung von rund 60 Mitarbeitern – und geht selbstbewusst durch seinen Alltag. «Ich sage einfach immer, ich schreibe ein wenig kreativ. So nehme ich den Leuten gleich den Wind aus den Segeln.»
Immer noch grosses Unverständnis in der Gesellschaft
Offene Kommunikation als Mittel gegen Diskriminierung sei eine gute Strategie, sagt Locher. «Stefan geht sehr gut mit seiner Schreibschwäche um. Leider gibt es auch viele, die es nicht so gut handeln können wie er.» Sie erklärt, dass es im Kurs nicht nur darum ginge, Lesen und Schreiben zu lernen, sondern es auch eine emotionale Basis gebe: «Wichtig ist ebenso, das Selbstvertrauen aufzubauen und sich wieder neue Ziele zu setzen. Teilnehmende schafften mit über 40 Jahren beispielsweise eine Aufnahmeprüfung ins berufliche Allgemeinbildungsjahr der Berufsschule oder Zwischenprüfungen im Gesundheitsbereich. Erfolge sind wieder Realität und bleiben nicht bloss ein Traum.»
Das offensive Angehen einer Lese- und Schreibschwäche brauche Mut, denn leider herrsche immer noch grosses Unverständnis in der Gesellschaft und Wirtschaft dafür. «Das liegt auch daran, dass es nicht gut präsent ist», so Locher weiter. Darum sei das Schamgefühl bei den Betroffenen gross. «Ich habe beispielsweise einen Mitarbeiter, der ebenso Mühe mit dem Schreiben hat, er will sich aber partout nicht helfen lassen», erzählt Stefan. Dem gelte es, so stark wie möglich entgegenzuwirken, meint Locher. «Denn das Lesen und Schreiben wird immer wichtiger, egal in welcher Berufsbranche. Ausserdem sind Veränderungen unter Gleichgesinnten gut möglich und stärken das Selbstbewusstsein enorm.»
*Name von der Redaktion geändert
von Ladina Maissen