Andrea Isler
lädt zu ihrer ersten eigenen Kunstausstellung in die Villa bleu ein.
Niklaus Meienberg hat die Reportage neu erfunden. Entstanden sind kraftvolle, meist sorgfältig recherchierte Texte, die Aufsehen erregten. Er schonte aber seine Heimatstadt St.Gallen nicht, was ihm viel Kritik einbrachte, aber auch sich selbst nicht. Das führte schliesslich zu seinem tragischen Ende vor 30 Jahren.
Literaturgeschichte Der St.Galler Verein Inscriptum nimmt den 30. Todestag von Niklaus Meienberg zum Anlass, eine szenisch-musikalische Aufführung zum lyrischen Werk zu inszenieren. Die lyrischen Texte aus dem Sammelband «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge» werden gesprochen und mit Musikwerken aus der Minimal Music verwoben. Die musikalische Würdigung erfolgt in der Offenen Kirche St.Gallen am 29. September, am 30. September (jeweils 19.30 Uhr) und am Sonntag, 1. Oktober (17.30 Uhr).
Diese Inszenierung lässt erkennen, dass die originellen und häufig auch satirischen Schriften, aber auch die historischen Enthüllungen Meienbergs kulturelle Aktivisten in seiner Heimatstadt noch immer bewegen, so dass sie mit kulturellen Leistungen an Meienberg erinnern. So fand zum 20. Todestag eine vom Lotteriefonds mitfinanzierte Ausstellung «Warum Meienberg? Pourquoi Meienberg?» im Kulturraum am Klosterplatz statt. Zum 80. Geburtstag von Niklaus Meienberg wurde 2020 das von Peter Roth geschaffene Chorprojekt «Media Vita» aufgeführt. Es enthält Texte des sprachgewaltigen St.Galler Journalisten im Kontext aktueller Zeitfragen mit einem Puls von 54 Schlägen pro Minute vertont.
Als Kind in der grossen Familie Meienberg an der Grossackerstrasse lässt Niklaus nicht erahnen, dass aus ihm bald ein Rebell gegenüber Mächtigen werden wird. Der kleine Niklaus war sehr ruhig, wie der Biografie von Marianne Fehr zu entnehmen ist. Seine Schwester nannte ihn das «brävste Büblein». Meienberg machte später seine Jugendzeit zum Hauptthema verschiedener Essays. Bei aller Kritik am St.Galler Schulsystem, an einzelnen Lehrern und am katholisch-kleinbürgerlichen Milieu ist auch ein wenig Wehmut über die vergangene Zeit zu spüren. Doch Meienberg freute sich darüber, dass seine Kritik an der Katholischen Kantonsrealschule nie widerlegt werden konnte, es wurde höchstens gesagt, so etwas tue man nicht, das sei unanständig. Allerdings haben sich einige Schilderungen aus seiner Jugendzeit auch als übertrieben erwiesen, um eine gute Pointe zu erreichen.
Es folgten die gymnasialen Schulbesuche in Saint-Maurice und Disentis, die für neue Erfahrungen sorgten und von St.Gallen etwas ablenkten. Immerhin erscheint in der «Ostschweiz» seine erste Publikation mit kritischen Gedanken zum Schultheater. Doch sein Beitrag wurde massiv gekürzt, aus seiner Sicht das Wichtigste weggelassen. Damit begann sein lebenslanger Hader gegen Redaktoren und Verleger, welcher schliesslich in einem «Schreibverbot» beim «Tagesanzeiger» mündete. Zurück in St.Gallen muss Meienberg in die Rekrutenschule auf der Kreuzbleiche einrücken. Doch ein Röntgenbild bringt eine Wirbelverschiebung zu Tage und der Dienst fürs Vaterland dauert nur 14 Tage. So konnte er gleich sein Amerika-Jahr antreten. Es folgte ein Studium in Fribourg. Zwei Semester absolvierte er aus Kostengründen in Zürich mit Wohnsitz in St.Gallen. Jeden Sonntag ging er zu Hause in St.Fiden zur Kirche, worauf er sich immer kritisch äusserte zu den Dogmen und zur kirchlichen Doppelmoral. Er suchte mit Freunden St.Galler Szenelokale auf. Dann ging er für die Abfassung der Dissertation nach Paris und bombardierte die «Ostschweiz» mit Artikeln, die dort lange liegen blieben. Verärgert verfasste er einen Bericht, wie die «Ostschweiz» modernisiert werden könnte, doch er hatte hierbei wenig Erfolg. Heute kann man sich fragen, ob die Zeitung bessere Überlebenschancen gehabt hätte, wenn die Ratschläge Meienbergs umgesetzt worden wären.
Für den Studienabschluss kehrte er zurück nach Fribourg, um an den letzten Prüfungen teilzunehmen und die Lizenziatsarbeit abzuschliessen. Nach Auseinandersetzungen mit der Familie geriet er in eine Depression und unternahm einen Selbstmordversuch. Ein Freund sorgte dafür, dass sein Magen ausgepumpt wurde und er gerettet werden konnte. Indessen wurde seine Lizenziatsarbeit über «De Gaulle und die USA von 1940 bis 42» akzeptiert. Es folgten Jahre als Korrespondent in Paris für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.
Für sein wohl meistgelesenes Werk «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» befasste sich Meienberg wieder intensiv mit der Stadt Gallen. Natürlich blieben ihm heftige Kritiken nicht erspart. So schrieb die NZZ zur ersten Fassung, die Militärstrafjustiz werde aus dem historischen Zusammenhang gerissen und Ernst S. zum tragischen Helden stilisiert. Die spätere historische Nachprüfung durch den St.Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler ergab indessen eine wesentliche Übereinstimmung der Darlegungen mit den historischen Realitäten. Der sonst grosszügig wirkende «Ostschweiz»-Redaktor Hermann Bauer rechnete nun als begeisterter «Ur-St.Galler» mit Meienberg ab und schrieb, er treibe «Nestbeschmutzung», die «kaum mehr höflich, sondern lediglich unerbittlich» genannt werden könne. An der Verfilmung des Stoffes konnte Meienberg wegen fehlender Beiträge kultureller Institutionen nichts verdienen.
Das Wirken von Bundesrat Kurt Furgler, der in seiner Heimatstadt damals hohes Ansehen genoss, verfolgte Meienberg ebenfalls kritisch und schrieb: «Er hatte links angefangen, als Exponent der christlichsozialen Bewegung, links unten, und war dann in die konservative Mitte geraten und in die Höhe geklettert. Dort war es ihm wohl, aber das durfte er nicht zeigen, und er behauptete immer, er habe doch gar keine Macht.» Durch Besuche in St.Galler Szenelokalen lernte Meienberg Furglers Tochter Claudia kennen. Die legendäre Freundschaft wurde später immer wieder erwähnt, vor allem auch durch die Anekdoten, die Meienberg verbreitete. Furgler sah sich veranlasst, Meienberg ins Bundeshaus zu bestellen, wo er versuchte, ihm ins Gewissen zu reden. Während er erklärte, sie habe ihm gefallen und er ihr wenigstens eine Zeit lang, sprachen seine linken Freunde von einem «Politkrimi».
In seinem Poesiebuch «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge» befasste sich Meienberg zunächst mit St.Gallen. Er glossierte dabei die Plakatwerbung der City-Vereinigung «Wa meer nöd hend, hät niemert» mit eigenen Versen: «Wa mer nöd chänd/cha niemert/niemert cha/wa mir chönd…» Der Werbespruch «chomm mer gönd go lädele» wird ergänzt mit «Chomm mer gönd go bädele/Chomm mer gond go schnäbele». Die laszive Fortsetzung war natürlich nicht dazu angetan, die Sympathie des St.Galler Gewerbes zu erobern, das zum Teil auch hinter der späteren Kampagne stand, mit der versucht wurde, zu verhindern, dass Meienberg mit dem Kulturpreis ausgezeichnet wird.
In den folgenden Jahren zeigte sich Meienbergs Unruhe durch zahlreiche Wohnortswechsel, am häufigsten war er in Zürich und Paris zu finden. Immer wieder eckte der «Feuerkopf» an, verlor Freunde und fand neue, überbordete zuweilen mit seinen Kritiken, um dann wieder in eine depressive Phase zu fallen, ausgelöst auch durch heftige Gegenreaktionen. Der Golfkrieg brachte ihn völlig aus der Fassung und sorgte gar für Verfolgungsängste. In Panik stürmt er nach St.Gallen, um hier HSG-Rektor Alois Riklin zu treffen. Ohne ihn zu informieren, lädt er in seinem Institut zu einer Medienkonferenz ein. Er berichtet hier von Verfolgungen, worauf ein junger Journalist fragte, ob es sinnvoll sei, darüber zu schreiben, denn so mache man seine Verfolger geradezu auf seinen Aufenthaltsort aufmerksam. Darauf explodierte Meienberg und verliess den Raum.
In seiner bei der Übergabe des St.Galler Kulturpreises in der Höhe von 15'000 Franken gehaltenen Ansprache im vollgefüllten Stadttheater machte er erstmals sehr deutlich auf seine gespaltene Persönlichkeit aufmerksam. Es gab nicht wie erwartet nur einige Seitenhiebe auf die abwesende Prominenz. Anschliessend folgte eine melancholische Dankesrede. Er teilte sich in zwei Personen auf und sprach als Meienberg II. Dieser überbrachte die besten Grüsse vom introvertierten, verletzlichen Meienberg I, der es vorgezogen habe, in den Untergrund abzutauchen. Meinberg II war der oft Gescholtene, der zum Protest Verurteilte, der die «vermaledeite Rolle, nämlich dort auszurufen, wo andere schweigen», zu spielen hatte. Dem offiziellen Anlass mit der Übergabe eines Pflastersteines statt einer Urkunde folgte ein Abendessen im Hotel Ekkehard. Natürlich war die Übergabe des Preises an Meienberg damals heftig umstritten, heute dürfte sich kaum mehr eine Gegnerschaft bilden. An der Feier selbst meldete sich nur ein Kritiker zu Wort, nämlich der Zahnarzt Kurt Hungerbühler, der die Auszeichnung von Meienberg in der von ihm so schlecht gemachten Stadt beanstandete.
Vorgängig fand eine Postkartenaktion mit einer Karikatur statt, die auch in den «St.Galler Nachrichten» Erwähnung fand. Ein kulturelles Aktionskomitee bezeichnete den Preis als deplatziert, weil Meienberg nicht nur einzelne Personen namentlich, sondern die St.Galler auch in globo als doppelmoralische, heuchlerische und kleinkarierte Spiessbürger abqualifiziert hatte.
Dem Suizid von Niklaus Meienberg vor 30 Jahren gingen schwere Jahre mit Schicksalsschlägen voraus. Die manischen und depressiven Perioden, die er durchmachte, spitzten sich in den 90er-Jahren wieder zu. 1992 wurde er von zwei Nordafrikanern auf offener Strasse zusammengeschlagen. Von nun hörte er hinter sich ständig Schritte. Von diesem Überfall und einem schweren Motorradunfall in Frankreich erholte er sich nicht mehr. Es folgte der Tod seiner Mutter, mit der ihn eine enge, aber nicht unproblematische Beziehung verband, und die Trennung von seiner langjährigen Freundin. Das führte zu seiner Verzweiflung: Spätabends legte er auf seinen Schreibtisch rund ein Dutzend Abschiedsbriefe. Darauf schluckte er eine Handvoll Schlaftabletten mit Wein. Er löschte das Licht und stülpte einen Abfallsack über seinen Kopf. Und im Obduktionsbericht des Rechtsmediziners war zu lesen: «Als Todesursache liegt ein Ersticken nach vorgängiger Einnahme von Schlaftabletten mit Alkohol vor».
Einige Werke Meienbergs sind nicht mehr erhältlich, andere beinahe vergessen, weil sie gesellschaftliche Entwicklungen zum Gegenstand haben, die heute nicht mehr bewegen. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen sicher seine historischen Abhandlungen aufgrund ausgedehnter Recherchen, etwa zu Ernst S. oder General Wille. Zutreffend ist sicher, was Edgar Bonjour, der Doyen der schweizerischen Geschichtsschreibung über Meienberg gesagt haben soll: Er sei ein wichtiger Vertreter der «histoire totale» und ein Historiker im Dienst der Schwachen und Opfer der Geschichte.
Von Franz Welte
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